Cover
Titel
Vitamin C für alle!. Pharmazeutische Produktion, Vermarktung und Gesundheitspolitik 1933–1953


Autor(en)
Bächi, Beat
Reihe
Interferenzen. Studien zur Kulturgeschichte der Technik 14
Erschienen
Zürich 2009: Cicero Verlag
Anzahl Seiten
275 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Nils Kessel, Geschichte der Medizin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br.

Am Anfang von Beat Bächis Buch «Vitamin C für alle!» steht eine ebenso einfache wie interessante Frage: Weshalb hat das Basler Pharmaunternehmen Hoffmann La Roche begonnen, einen Stoff synthetisch herzustellen, der doch in Früchten und Gemüse reichhaltig vorhanden ist?

Bächis Darstellung, die sich vor allem auf Quellen im Unternehmensarchiv der Basler Hoffmann La Roche AG stützen kann, ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil des Buches (Kapitel 2–4) behandelt die Geschichte der Ascorbinsäure-Synthese und den Weg zu industriellen Herstellungsverfahren. Der zweite Teil (Kapitel 5–8) betrachtet die Anwendung der Roche-Produkte in verschiedenen Kontexten. Bächi führt seine Leser durch eine Geschichte an wechselnden Schauplätzen in der Schweiz der dreissiger bis fünfziger Jahre und dem nationalsozialistischen Deutschland. Nachdem der Chemiker Tadeus Reichstein am Beginn der 1930er Jahre erfolgreich Vitamin C synthetisiert hatte, trat er in Kontakt mit der Basler Hoffmann La Roche AG. Anschaulich schildert der Autor, wie das Basler Unternehmen Absatzmärkte für eine Substanz suchte, die in der natürlichen Form in Gemüse und Südfrüchten in ausreichenden Mengen verfügbar ist (Kapitel 3). Künstliches Vitamin C schien weder als Medikament noch als Nahrungsmittel benötigt zu werden. Zudem existierte kein kostengünstiges industrielles Verfahren zu seiner Herstellung. Zwar war es Reichstein gelungen, die Synthese im Labor durchzuführen, doch erst ein zweites Syntheseverfahren war auch industriell nutzbar (Kapitel 4).

Im zweiten Teil des Buches untersucht Bächi die Vermarktung und Anwendung der synthetischen Ascorbinsäure am Beispiel der Roche-Produkte «Nestrovit» und «Redoxon». Mit der vitaminisierten Milch- bzw. Schokoladenemulsion «Nestrovit» vermarktete Roche ein ascorbinsäurehaltiges Nahrungsmittel als ‘functional food’ (Kapitel 5). «Redoxon» hingegen war reine synthetische Ascorbinsäure, mit deren Hilfe die Roche-Verantwortlichen das Feld medizinischer Forschung und Therapie zu besetzen gedachten (Kapitel 6). Unterschied man vorher lediglich zwischen dem symptomlosen «Gesunden» und dem von Vitamin-C-Mangelerscheinungen gekennzeichneten Kranken, so führten der Roche-Forscher Albert Szent-Györgyi und der «Wissenschaftliche Dienst Roche» eine neue Kategorie zwischen beiden Zuständen ein: Die «Vitamin-C-Hypovitaminose» war symptomfrei, jedoch dank eines eigens von Roche hierfür entwickelten diagnostischen Instruments messbar (S. 140–143). Dieses zeigte an, dass Patienten unterdurchschnittlich viel Vitamin C in ihrem Körper hatten und sie deshalb nicht «optimal gesund» sein konnten, wie die Wissenschaftler argumentierten. «(Optimale) Gesundheit» war jedoch nicht mehr auf individuelle Körper, sondern auf Bevölkerungen bezogen. Denn nur so liessen sich bevölkerungsstatistische Mittelwerte für eine richtige Vitaminmenge berechnen, «bei der große Völkerschichten die geringste Mortalität und Morbidität aufweisen» (Szent-Györgyi, zit. nach Bächi, S. 137). Bächi spricht hier so provokant wie zutreffend von der «Erfindung eines Krankheitsbildes» (S. 127).

Im mit sechzig Seiten umfangreichsten Kapitel 7 untersucht Bächi die erfolgreiche Verankerung des synthetischen Vitamin C in der Armee, auf der Landesausstellung 1939 in Zürich und in schweizerischen Klassenzimmern vor und während des Zweiten Weltkrieges. Zwar zeigte sich die schweizerische Militärärzteführung zuerst skeptisch. Sie liess sich jedoch von der Überlegenheit des synthetischen «Redoxon» gegenüber den günstigeren Hagebutten überzeugen (S. 159–171). Roche spielte dabei einerseits auf der patriotischen Klaviatur der «Swissness», indem Redoxon als schweizerisches Produkt dargestellt wurde, das zur Autarkie des Landes beitrüge. Zugleich stützte sich das Unternehmen auf die Autorität wissenschaftlicher Nachweise, Instrumente und Akteure – mit grossem Erfolg. «Redoxon» überholte die Schlafmittel des Unternehmens und rückte auf den ersten Platz in der Umsatzstatistik von Roche auf (S. 187).

Mit seiner Studie unterläuft Bächi ebenso wie seine historischen Akteure Grenzziehungen zwischen öffentlicher und privatwirtschaftlicher Forschung und zwischen wissenschaftlichem Wissen und Vermarktungsstrategien. Dem Autor gelingt eine konzise Darstellung der Allianzen, die den wissenschaftlichen und kommerziellen Erfolg des synthetischen Vitamin C ermöglichen. Die künstliche Ascorbinsäure ist bei Bächi keine technologische Innovation, deren unbestreitbare Vorteile ihre Nutzung erzwingen. Vielmehr arbeiteten an der Durchsetzung dieser Innovation Chemiker in Universitäten und den Roche-Laboratorien ebenso mit wie Physiologen und Ernährungsspezialisten, die ihre Autorität bei der Zulassung der Produkte als Arznei- oder Nährmittel zugunsten der Roche-Präparate einsetzten. Militärs stellten ihre Soldaten für Experimente mit dem Präparat Redoxon zur Verfügung, und Regulierungsbehörden machten den Weg für ein «schweizerisches» Vitamin C frei.

Über die Geschichte des Vitamin C hinaus verweist Bächis Studie auf die Bedeutung von biopolitischer Macht im Sinne Michel Foucaults. Denn künstliches Vitamin C war immer auch an Vorstellungen von gesunden Körpern gebunden. Als im nationalsozialistischen Deutschland die Gesundheit des Einzelnen zur Pflicht erklärt wurde, war künstliches Vitamin C ein Instrument solcher biopolitischer Macht: die tägliche Vitamin-C-Gabe in der Schule, die Nutzung des Vitamin C zur Gesundheitssteigerung des Soldaten und die Werbung für gestärkte, da vitaminisierte Körper lassen sich nicht trennen von den Allianzen aus Wissenschaftlern, Unternehmern, Ärzten und Militärs, die den Absatz der Roche-Präparate ermöglichten. Wie auch bei Foucault ist diese Macht keine zentralisierte Gewalt. Sie gründet sich nicht auf die besondere Legitimität einzelner Personen. Vielmehr sind es die von Bächi beschriebenen Allianzen, die diese Macht begründen, indem sie Sichtweisen auf Vitamine, Körper und Gesundheit beeinflussen.

Zuweilen gerät die Stärke der auf die Roche-Vitamine gestützten Darstellung zur Schwäche. Dies ist dann der Fall, wenn auch andere Akteure nur aus Sicht des Roche-Managements in ihren Haltungen und Überzeugungen beurteilt werden. Auch die Endnutzer als Konsumenten bekommen in Bächis Buch vergleichsweise wenig Entscheidungsautonomie zugesprochen. Doch eine solche Kritik darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Beat Bächi mit «Vitamin C für alle» eine überaus lesenswerte, durchweg elegant geschriebene Studie vorgelegt hat. Historiker dürften sie ebenso wie kultur- und wissenschaftshistorisch Interessierte mit grossem Gewinn lesen.

Zitierweise:
Nils Kessel: Rezension zu: Beat Bächi, Vitamin C für alle! Pharmazeutische Produktion, Vermarktung und Gesundheitspolitik 1933–1953, Zürich: Chronos Verlag, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 347-349.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 347-349.

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